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Donnerstag, 5. November 2015

Lampenfieber



Georg verliess die Metrostation, überquerte den Boulevard de Grenelle und als er in die Rue de l‘Avre bog, erkannten seine Füsse den Boden unter seinen Sohlen wieder: seine Schritte fielen in denselben beschwingten Trott, mit dem er die Straße vor zwanzig Jahren zum ersten mal betreten hatte und selbst sein Koffer war ihm jetzt leichter. Die Narben im Asphalt unter seinen Schritten waren ihm vertraut wie ein Handschuh, den man lange nicht getragen hat und an dessen Leder sich die Haut sofort erinnert. Damals war er davon gelaufen vor seiner Familie, hatte hier bei seiner Tante gelebt, sich weggeträumt von allen Zwängen, Ablehnungen und Erwartungen die ihm zu Hause aus jedem Pflasterstein entgegen spuckten und er war mit Gitarre auf dem Rücken glücklich in das nimmermüde Karussell der Großstadt gestiegen. Jeder Bewegung wohnte eine Hoffnung inne. Der Kerl mit der Gitarre machte die Nacht zum Tage und wachte in allen Stadtteilen auf. Jetzt war ihm die Bitte für eine Woche auf die Katze der Tante aufzupassen, ein willkommener Grund, hierher zurückzukehren und sich von Berlin von Dorothee und der Trennung zu entfernen. In der Wohnung angekommen suchte er die Katze, fand sie unter dem Sofa versteckt und öffnete ein Fenster. Als er den Fenstergriff losliess, überkam ihn ein kurzer Kontrollverlust: seine Hand tropfte willenlos vom Fenstergriff ab und zog den Oberkörper mit sich hinab. Eine Unsicherheit nicht länger als Lidschlag, aber doch genug um ihn aus dem  Gleichgewicht zu bringen. Georg stützte mit gesenktem Kopf beide Arme am Fensterbrett auf. Der Hauch eines zu kühlen Frühsommers zog durch das Fenster. Als Georg sich wieder aufrichtete und den Blick hob, fühlte er sich in der altvertrauten Wohnung ebenso fremd, wie in derjenigen, die er gerade in Berlin bezogen hatte. Eine Neubauwohnung zwei Zimmer klein, deren Wände in zu hellem weiss steril waren und in der auch nach zwei Wochen die Umzugskisten ungeöffnet standen. 

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Es ist ein sonniger Herbsttag, zu dessen Beginn ich unbedarft und fast hilflos vor einer Steinbank am Waldrand stehe und auf Dorothee warte. Dorothee beobachtet mich schon lange bevor ich sie bemerke und meine Unbeholfenheit belustigt sie. Ich murmele vor mich hin, bis eine Überraschung meine Aufmerksamkeit fesselt. Zwei Pudel kommen den Kiesweg entlang geprescht, wovon der eine auf drei Beinen hüpft, während der andere  ihn verfolgt und ihm nach der Kehle schnappt. Der Invalide ist der Aggression seines Artgenossen nicht gewachsen, windet sich winselnd, worauf der Beißer aber keine Rücksicht nimmt. Ich packe den Angreifer am Halsband und sehe mich um nach den Besitzern. Weiter unten auf dem Kiesweg sehe ich zwei Hundehalter, die nicht zueinander passen: Ein Mann um die vierzig im Jogginganzug, in der Hand, die an seiner Seite hängt, hält er die Hundeleine und lässt sie ungeduldig schnalzen wie ein Peitsche, während er der älteren Dame vor sich zuhört. Sie steht vor ihm im Herbstmantel, schaut zu ihm auf und spricht bedächtig, ungeachtet seines stumpfen Gesichtsausdruckes. Ihre Leine hält sie reglos auf dem Rücken, von dem sie herabhängt wie ein Zopf. Ich zerre den Pudel den Weg entlang zu den Hundehaltern, der Beißer kneift den Schwanz ein und will partout nicht in die Richtung seines Herrn, während der dreibeinige Hund in Sicherheitsabstand folgt. Ich bilde mir ein, dass er lächelt. 
Als ich zur Steinbank zurückkehre ist meine Unsicherheit verflogen. Ich setze mich dieses Mal sogar hin und die Kälte der Bank ist mir fürs erste egal. Da erst sehe ich Dorothee: sie steht vor dem Eichenrondell mit einem Blick, der verrät dass sie die Episode mit den Hunden beobachtet hat. Ich muss lachen und während ich auf sie zugehe, frage ich, warum sie sich versteckt. Erst als ich schon fast vor ihr stehe sagt sie 
– Ich wollte dich erst mal angucken, Georg.
Sie löst sich aus dem Stand und wir gehen den Waldweg entlang. Sie trägt eine dunkelrote Wollmütze, deren Saum handbreit umgeschlagen ist, eine graue Strumpfhose unter dem schwarzen kurzen Rock und die Schlaufen der Schnürsenkel ihrer Stiefeletten scheinen exakt gleich groß und gleich geformt zu sein. 
– Du kennst dich mit Hunden gut aus.
– Ich habe Angst vor Hunden.
Sie lacht
–So sieht keine Angst aus!
– Genauso sieht Angst aus.
Sie stutzt und wir gehen weiter auf das Rondell zu, als wir dort ankommen bleibt sie stehen und hält mir ihren Handrücken unters Gesicht
– Hast du vor ihm auch Angst?
Auf Dorothees Handschuh ist ein Hund, der nach einer Zeichentrickfigur aussieht. Den Film oder die Serie kann ich nicht zuordnen. Ich sage ihr, dass ich vor ihm hier keine Angst habe und weise darauf hin, dass dieser Hund ja aus Wolle ist und somit also nur ein Schaf ist, das sich als Hund verkleidet und wer bitteschön hat schon Angst vor Schafen. Sie schaut bestürzt, wenn der Hund hier nur ein verkleidetes Schaf sei, dann könne er auch nicht die Beschützerqualitäten haben, die sie sich von ihm erhofft habe, das sei sehr enttäuschend und an dieser Enttäuschung sei ich mit meiner schonungslosen Offenheit schuld. Ich lege ihr nahe, sich Zucht und Training von Beschützerschafen, also Schutzschafen zu überlegen, um nie mehr in diese Verlegenheit zu geraten. Darauf hat sie keine Erwiderung, sie vergräbt beide Hände unter ihren Achseln und kommt einen Schritt auf mich zu. Ob ich hier schon einmal gewesen sei?
– Ja, aber noch nicht überall.
So weiß ich zum Beispiel nicht was auf der anderen Seite des Rondells liegt. Sie hakt sich unter und wir durchqueren schweigend das Rondell. Ihre Schulter ruht federleicht an meinem Oberarm und wenn sie zur Seite schaut, schmiegt sich ihr Oberkörper weiter an mich, als wolle ihre weiche Flanke mich greifen. Hinter dem Rondell biegt der Weg nach rechts in einen Wald, links öffnet sich eine Schlucht, aus der Nebel steigt, durchschnitten von Lichtbahnen der Novembersonne. Vor uns auf dem Waldboden liegen Eicheln und Kastanien ich hebe Kastanien auf und werfe eine Kastanie in hohem Bogen in den Nebel hinein.
– Sportler, was?
– Denksportler. Bestenfalls.
Ich werfe ihr eine Kastanie zu, die sie auffängt. Jetzt stellt sie sich direkt vor mir hin, hat mir den Rücken zu gewendet und holt mit der Kastanie in der Hand aus. Sie holt aus, doch anstelle die Kastanie abzuwerfen, dreht sie sich zu mir, gibt mir einen Kuss, springt einen Schritt zurück und schleudert dann die Kastanie in den Nebel hinein. Sie dreht sich wieder zu mir.
– Du hast nicht hingeguckt, ich hab viel weiter geworfen als du!
– Stimmt. Ich hab nicht hingeguckt. Aber du hast nicht weiter geworfen als ich.
– Hab ich wohl.
Die restlichen Kastanien purzeln aus meiner Hand zu Boden, Dorothees rote Mütze streift meine Wangen – Nebel, Wald und Eichenrondell versinken im Dunkel der Umarmung. Als wir die Augen wieder öffnen, hat sich der Nebel fast verzogen, das Tal erscheint kleiner und weniger tief als der Nebel glauben machte. Uns gegenüber erhebt sich ein Berg, auf dessen Gipfel schon Schnee liegt. Ein Birkenwäldchen steht am Hang. Die weißen Bäume schweben über dem Boden und die Rinde schimmert im Dunklen. Dicht an dicht stehen die Birken dort und doch macht dieser Wald keine Angst. In und neben den Pfützen verschluckt der Morast herabgefallene Äste zu allen Jahreszeiten. Vor dem Auge des Betrachters verschwimmt das Weiß der Birken randlos im Schnee. Die Leichtigkeit dieses Birkenwaldes hat nichts gemein mit den Körper gewordenen Schatten der Stadtbäume im Winter. In meinem Viertel säumen verrußte, in die Höhe gereckten Krallen die Bürgersteige. Von Ferne scheint der Birkenwald wie eine Wolke, die sacht vom Wind davongetragen getragen werden könnte. Hier nur zu Besuch. Und wie eine Nebelwolke löst sich der Wald mit zunehmender Ferne auf im Schnee und ich frage mich, ob er noch so da sein wird, wenn ich zurückkommen werde oder schon hinweg geweht sein wird, oder vom schmatzenden Morast verschluckt. Dorothee hakt sich wieder bei mir ein, schaut mich erst fragend dann beruhigt an und wir gehen schweigend den Weg zurück durch das Rondell. Uns entgegen kommt der Hundebesitzer im Trainingsanzug. Als der Hund mich bemerkt, zerrt er an der Leine und knurrt. Der Besitzer schaut finster und geht grußlos an uns vorüber. Sobald Herr und Hund hinter uns sind, greifen ihre Arme nach mir und sie saugt sich in langem Kuss an meinem Gesicht fest. 


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Georg verließ die Wohnung an dem Abend nicht mehr, schlief auf dem Sofa ein und wachte kurz vor acht wieder auf.  Er wusste nicht welches Stück Dorothee heute spielte, wusste nur, dass sie darin auch singen musste, was ihr unangenehm war. Acht Uhr. Georg fragte sich ob das Theater voll sei, und ob sie doch noch glücklich mit dem Stück geworden sei. Er fand keine Ruhe, konnte nicht sitzen, nichts lesen, begann aufzuräumen und zu putzen, brach es aber sofort wieder ab. Keine Ruhe.  Er betrachtet die blühenden Kastanien vor dem Fenster, die in der Nacht schimmerten. In der Abendröte schwebte der Tag dem Horizont zu und nahm in letztem Glühen seinen Abschied in die Nacht. Gegen Elf überkam ihn Erschöpfung und die Unruhe machte einer schlaflosen Mattigkeit platz. Er lag bäuchlings auf dem Sofa, die Wirbelsäule eine zertretene Raupe. 
Gegen halb zwölf gab er sich einen Ruck, rief Dorothee an und fragte wie sie den Abend überstanden habe. 
– Was meinst du Georg? 
– Die Premiere.
Schweigen. 
– Georg, die Premiere war vorgestern. 
Ob er, wie verabredet, das Geld überwiesen habe? Er bejahte und ihr Ton wurde ihm sofort lästig. Das Gespräch blieb knapp. Draußen ging der Wind durch die Kastanien, der Himmel leuchtete dunkelblau. Kühle im Zimmer. Georg schloss das Fenster.


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Die verbleibenden Tage verbringe ich ruhig. Ich habe mich entschieden Dorothee nicht noch einmal anzurufen und spüre seitdem die jugendliche Kraft mit der sich der Sommer Raum nimmt. Ich flaniere entlang der Bäume, spaziere die Strassen hinab, setze mich unter die Markisen der Terrassenlokale und erwarte im Schein bunter, pendelnder Glühbirnen die Nacht. Der Sommer ist nicht mehr zu ignorieren. Kurze Röcke und Hosen, leichte Hemden auch noch in der Nacht sitzt meine Sonnenbrille in der Stirn. Ich geniesse den Blick hinauf zum Abendhimmel: ein orange-rosa Löschblatt, in das jeden Abend die Tinte der Nachtschwärze fliesst.  In der Bewegung zu Hause laufe ich durch die Stadt und wie durch einen Geist geht der Moloch durch mich hindurch. Durch mich hindurch zieht der Duft von schmelzendem Käse an den Crêpeständen, der Uringeruch über den U-Bahnschächten, der Zigarettenqualm der Bistros oder der kurze Duftstoß beim Öffnen cellophanverpackter Blumen. Bei längeren Zugfahrten verschwimmen die Eindrücke mit Erinnerungen aus meiner ersten Zeit hier: Bilder tauchen kommen kurz in meinen Blick und rasen dann in den Tunnel, wie die Fassaden hinter den Metrofenstern. An mir vorbei und in den Tunnel zieht Michel, ein Polizist aus dem Elsass, der die Großstadt und alles Französische hasst und mich trotz Haschischbesitzes laufen lässt, weil er mit mir Deutsch sprechen konnte. An mir vorbei und in den Tunnel ziehen die letzten Gäste auf der Terrasse des Lokals, in dem ich gespielt habe und auf der Monsieur Chatel mit dem Schlauch den Boden sauber spritzt. An mir vorbei und in den Tunnel zieht Bruno, der das gemeinsam verdiente Geld einsackt und mich dabei beschimpft ihn bestehlen zu wollen. An mir vorbei und in den Tunnel zieht, Stéphanie mit den Haselnussaugen, die im Gespräch mit ihrem Rendezvous sich flink zu mir dreht, mich ins Visier nimmt und unterm Tisch mit den Füssen meine Beine greift. An mir vorbei und in den Tunnel zieht Mehdi mit der akkuraten Frisur, der einzig Brave hier, der auf der Parkbank fürs College büffelt, während seine Brüder auf dem Rasen Haschischpakete abwiegen. An mir vorbei und in den Tunnel ziehen die Huren in der Rue St.Denis, die dort schon länger im Morgennebel stehen, als die geschwungenen Straßenlaternen. An mir vorbei und in den Tunnel zieht die durchs Treppenhaus humpelnde Shirin, vom Erfolg endgültig verlassen, die jeden Donnerstag einen Koffer voller Heroin fünf Stockwerke hinauf in die eigene Wohnung trägt und die kein Buch mehr schreiben wird. An mir vorbei und in den Tunnel zieht der erstaunte Blick des Kartenverkäufers im Theatre Hebertot, der mir die Theaterkarte schenkt, weil noch keiner mit Gitarre auf dem Rücken sich hier nach dem Theater erkundigt hat. An mir vorbei und in den Tunnel ziehen zwei fette Jugoslawen in schwarzen Lederjacken, die mir am Gare de l‘Ést Stöckchen als Dope andrehen. An mir vorbei und in den Tunnel zieht ein drahtiger Opernsänger, dessen Namen ich nicht weiss, der in der Metro aufsteht, mir applaudiert und mich streng bittet, meine Stimme ernst zu nehmen.

Ich bin wach, die Last der Hoffnung hinter mir.